09.02.15

Porträt: Macht und Makel des Oscars (Teil 1: Hollywoods Elite-Club – Die Academy)

Er gilt als der größte und bedeutendste Filmpreis der Welt – der Oscar! Ein Ritterschlag für jeden Filmschaffenden, Einzug in den Olymp einer Profession, die höchste Auszeichnung und Anerkennung, die es zu erringen gilt.
Zeitgleich ist er einer der umstrittensten Preise der Welt – manche Kritiker werfen ihm vor, statt der Qualität der Filme vor allem ihre politischen oder sozialen Umstände zu berücksichtigen. Die anderen beklagen, dass der Gewinn eines Oscars hauptsächlich das Ergebnis einer erfolgreichen Marketingkampagne sei, und der Preis daher nur ein kurzlebiger Beliebtheitswettbewerb.
Doch was genau ist er nun, der Oscar? Um das zu ergründen, werfen wir einen Blick hinter die glamouröse Fassade, direkt auf das Wesen des mächtigsten Filmpreises der Welt.
© Duoscope - der etwas andere Filmblog
Marcos Blick:

Um den Oscar und seine Ambivalenz zu verstehen, muss man vor allem die Organisation verstehen, die hinter dem Oscar steht: Ein elitärer Club, der sich nur ungern in die Karten schauen lässt: die Academy of Motion Pictures Arts and Sciences!

Louis B. Mayers erste 36


Die Academy ist das Kind einer der aufregendsten Zeiten Hollywoods: der späten Zwanziger!
1927 befindet sich das erste filmkünstlerische Mekka der Welt im Wandel. Das Medium „Film“ entwickelt sich gerade von einer experimentellen Vergnügungsform zu einem millionenschweren Geschäft. Zwanzig Jahre lang haben Träumer und Unerfahrene das Medium bevölkert, und in Europa tun das kreative Innovatoren wie die deutschen Expressionisten oder der findige Brite Alfred Hitchcock noch immer.

In Los Angeles aber wächst eine ganze Stadt aus der kargen Wüste, die nur ein Thema kennt: Leinwand-Unterhaltung. Hier sammeln sich die Stars und Starletts aus aller Welt. Autoren tippen an klackernden Schreibmaschinen ihre Drehbücher auf billiges Papier, Regisseure brüllen durch blecherne Flüstertüten ihre Befehle an Schauspieler, die auf verdorrtem Boden vor Kulissen aus Segeltuch und Holz mit vollem Körpereinsatz herumhampeln –Tonfilm ist allenfalls eine Spielerei, der wenig Zukunft unterstellt wird, und alles muss körperlich vermittelt werden. Kameramänner kurbeln den Film noch per Hand durch ihr Gerät, die Drehzeit für ein Werk beträgt etwa eine Woche, viele Stars bringen 20 oder 30 Streifen im Jahr heraus, und am Ende rennen Hunderte von Vergnügungssüchtige in die Kinos, vor allem in den Großstädten New York, Chicago, New Orleans, und genießen für 25 Cent einen der Streifen. 

Das einst wilde Treiben, bei dem noch wenige Jahre zuvor jeder mit etwas Zeit und Geld irgendeinen Film drehen konnte, ist vorbei: Hollywood organisiert sich. Studios reißen die Stars an sich, und damit auch die lukrativen Filme, und beginnen, ihre Werke selbst zu vertreiben – womit sie den bisherigen Zentralvertrieb der MPCC untergraben. Autoren stellen Regeln auf, um dem Publikum den immer gleichen Kick zu geben. Kurz: Aus der Kunstmetropole wird eine Traum“fabrik“!
Hollywoods aufregendste Zeit: Die Zwanziger! Filmemachen ist noch immer ein Abenteuer und für viele ein Experiment. In diesen Jahren wird das "moderne" Hollywood geboren. Es sind die Anfänge der "Traumfabrik"!
Quelle: DVD "The Artist" © EuroVideo Medien GmbH
Allerdings fehlen dieser Fabrik noch jede Menge Regeln: Weder gibt es einheitliche Techniken, noch geregelte Arbeitszeiten oder -löhne. Noch muss jeder, der den Weg ins Filmgeschäft sucht, eigene Erfahrungen sammeln, eigene Fehler machen – und alleine auskommen.
Genau daran möchte Louis B. Mayer, frischgewählter Chef der Metro-Goldwyn-Mayer Studios, etwas ändern.

Mayer ist vermutlich einer der bedeutendsten Köpfe, die je in Hollywood gewirkt haben. Später wird er das „Star-System“ erfinden, das einzelne Schauspieler gezielt zu Stars aufbaut, um die Zugkraft in Filmen auszubauen. Doch 1927 ist der erfahrene Filmemacher noch auf der Suche nach Möglichkeiten, das Filmgeschäft zu optimieren und weiterzubringen – vor allem die künstlerische Seite.
Ihm schwebt eine zentrale Instanz vor, eine Organisation, die sich um die Filmkünstler bemüht, sie unterstützt und das Medium weiterentwickelt. Vor allem möchte er die Arbeitssituation unter Kontrolle bringen.
Er bespricht sich mit einigen Kollegen, und schließlich steht das Konzept: Mayer will einen Eliteclub gründen, in der die erfahrensten und kreativsten Köpfen des Filmgeschäfts auf jährlichen Banketten in entspannter Runde Probleme und Lösungen das Filmgeschäft betreffend besprechen. Bald hat er einen Namen für seinen Club: „Academy of Motion Pictures Arts and Sciences“ – „Akademie für Filmkünste und -wissenschaften“.

Im März 1927 lädt er 36 der wichtigsten Filmschaffenden Hollywoods zu einem Bankett und offenbart ihnen seine Pläne. Noch an diesem Abend werden alle Anwesenden zu Gründungsmitgliedern der Academy, darunter Legenden wie Harold Lloyd, Mary Pickford, Cecil B. DeMille, Irving Thalberg oder Douglas Fairbanks, der auch zum ersten Präsidenten der Academy bestimmt wird.
Am 6. Mai 1927 trifft sich die Academy erstmals offiziell – da ist die Mitgliederzahl bereits auf 230 gewachsen. Die Arbeit kann beginnen.

Die Arbeit der Academy


Und die Arbeit der Academy kann kaum hoch genug eingeschätzt werden.
Wie von Mayer erträumt, beginnt die Academy die Erfahrungen von Filmemachern zu bündeln und zu systematisieren. Anfangs kümmert sie sich, wie von Mayer erwünscht, vor allem um Arbeitsfragen. Sie hilft bei Vertragsverhandlungen, vermittelt Erfahrungen und Werte und erarbeitet Vertragsstandards.
1929 kooperiert die Academy mit der University of Southern California und gründet die erste Filmschule Amerikas – erstmals kann das Filmemachen direkt und wissenschaftlich erlernt und diskutiert werden. Dazu gehört auch, dass die Academy als erste das gesammelte Wissen übers Filmemachen überhaupt zu Papier bringt. Sie entwickelt die ersten Lehrbücher und Lehrtechniken, mit denen das Filmemachen vom Erfahrungsberuf zum Lehrberuf wird, und macht die Kunst damit allgemein zugänglich. Die Nachwuchsförderung bleibt der Academy ein Anliegen, weshalb sie ab den Siebzigern auch Oscars für Studentenfilme vergibt.
Awardgewinner erhalten - so wurde es uns erzählt - eine Ladung Oscarstatuetten aus Ton, die sie ans Team verteilen können. Hier (m)ein entsprechender "Team-Oscar" für den Kurzfilm DIE ROTE JACKE, der 2003 den Studentenoscar gewann und 2004 in der Kategorie "Bester Kurzfilm" nominiert war.
© Duoscope - der etwas andere Filmblog
Und in noch einem Punkt leistet die Academy Pionierarbeit: Sie sammelt als erste Organisation Filmcredits und beginnt, Filme zu katalogisieren. Sie macht das Werk der Filmschaffenden nachvollziehbar. In den Bibliotheken der Academy lagert seit den Dreißigern alles, was heute in der IMDb zu finden ist.
Die Academy stellt ihren Mitgliedern einen Kinosaal zur Verfügung, der immer auf dem neuesten Stand der Technik gehalten wird – Technik, die die Academy überhaupt erst ermöglicht!

Denn neben der künstlerischen Seite fördert sie vor allem die technische Entwicklung. Sie lobt Preise und Stipendien aus, fördert Entwicklungen mit Beratung und Finanzmitteln. So gut wie jede moderne Technikerrungenschaft des Kinos,vor allem für die Arbeit am Set, bestehend ist auf die Bemühungen der Academy zurückzuführen, wurde von ihr subventioniert oder zumindest ausgezeichnet.

Für seine Mitglieder bietet die Academy bis heute jede Menge Möglichkeiten zum Austausch: Kongresse, Workshops, Diskussionsrunden – immer und überall geht es bei der Arbeit der Academy darum, das Filmemachen künstlerisch weiterzubringen, den Nachwuchs zu fördern, die Möglichkeiten zu erweitern, und die Liebe zum Film und seine Geschichte zu bewahren.
Um Letzteres zu leisten, vollendet die Academy aktuell den Bau eines riesigen Museums, das 2017 eröffnet werden soll, und die Entwicklung des Films gut sichtbar konservieren und erfahrbar machen will.

Eintritt in den Elfenbeinturm


Die Zwecke und Ziele der Academy sind unstrittig ehrenwerte und können nur begrüßt werden. Das macht es umso erstaunlicher, dass die Academy immer wieder auch angefeindet wird.

Um das zu verstehen, muss man auf die Kehrseite des Gründungsgedanken von Louis B. Mayer zurückkommen, der seine Academy nicht nur als Fortschritts- und Weiterentwicklungsinstrument begriff, sondern eben auch als äußerst elitären Verein.
In Mayers Konzept fiel und stand alles mit der Prämisse, dass Fortschritt im Film nur von denen erreicht werden könnte, die zur Elite gehören. Und in der Gedankenwelt der Academy ist „Elite“ gleichzusetzen mit „Erfolgreich“.
Dieser elitäre Grundgedanke macht es unglaublich schwer, überhaupt Mitglied der Academy zu werden!

Wie in elitären Clubs üblich, tritt man nicht durch eine Bewerbung bei, sondern durch eine Empfehlung. Um das Empfehlungssystem der Academy zu verstehen, muss man sich kurz den Aufbau der Academy anschauen.

In ihren Anfangstagen ist die Academy in fünf Zweige aufgeteilt, in die sich ihre Mitglieder aufspalten: Schauspieler, Regisseure, Produzenten, Techniker und Autoren.
Mittlerweile sind daraus siebzehn Zweige geworden, etwa Kameramänner, Schnitt, Musik, Sound, Kostüm, Kurzfilmer, Dokumentarfilmer oder, seit 2013, Casting Directors. Die Zweige bilden die Basis der Academy und arbeiten unabhängig voneinander. Jeder Zweig wird von seinem eigenen, jährlich gewählten Präsidium geleitet.
Drei Präsidiumsmitglieder jeden Zweigs werden alljährlich in das sogenannte „Board of Governors“ gewählt. Diese 51 Mitglieder führen die Academy als Ganzes – und sie sind es, die jedes Jahr im März die Einladungen verschicken.
Douglas Fairbanks, Sr. wird 1927 zum ersten Präsidenten der Academy gewählt. Die Wahl findet jährlich statt, eine Person darf maximal vier Amtszeiten innehaben. Erste Präsidentin wird 1941 Bette Davis, die aber nach zwei Monaten hinwirft. Aktuell ist Cheryl Boone Isaacs (aus dem PR-Zweig) Präsidentin der Academy. Sie ist erst die dritte weibliche Leitung der Academy und die erste Afroamerikanerin an der Spitze.
Quelle: Blu Ray "Der schwarze Pirat" © dtp entertainment AG
Wie aber erhält man nun eine der begehrten Einladungen? Dafür gibt es zwei Wege.
Der eine führt über den Oscar: Jeder Künstler, der für einen der Academy Awards nominiert wird, erhält automatisch eine Einladung Mitglied zu werden!

Der zweite Weg ist etwas aufwendiger: Zwei Mitglieder (aus demselben Zweig) können dem „Board of Governors“ Neumitglieder für ihren Zweig empfehlen.
Allerdings kann nicht einfach jeder Filmschaffende empfohlen werden. Jeder Zweig hat feste Statuten, die ein Aspirant erfüllen muss. Die Vorgaben sind von Zweig zu Zweig unterschiedlich, erfordern jedoch in der Regel, dass Kandidaten bereits mehrfach erfolgreich im Vorspann(!) von kommerziellen Filmen genannt werden müssen. Manchmal wird eine vieljährige Berufserfahrung vorausgesetzt, oder eine nennenswerte Produktion innerhalb der letzten wenigen Jahre.
Erfüllt ein Kandidat diese Bedingungen, können zwei Academy Mitglieder eine Empfehlung aussprechen (häufig mit einem Empfehlungsschreiben). Einmal im Jahr bespricht das „Board of Governors“ diese Empfehlungen. Sie fällen die letzte Entscheidung darüber, ob die Kandidaten die letzte Bedingung erfüllen: „Ein Filmschaffen, das den hohen Ansprüchen der Academy entspricht“. Befindet das „Board of Governors“ alle Voraussetzungen als erfüllt, lädt es den Künstler ein, Mitglied in der Academy zu werden.
So kommen, bis vor Kurzem, knapp 130 Einladungen im Jahr zusammen. Die Einladungen werden seit 2004 per Presseerklärung herausgegeben, die exakte Mitgliederliste bleibt hingegen Spekulation.

Die Regularien zeigen schnell: Die Academy ist ein Spiegel der (vor allem) amerikanischen Filmwelt: Nur wer in Hollywood erfolgreich ist und lange Bestand hat, wird überhaupt eingeladen.
So erklärt sich auch der immer wieder bemühte „Skandal“, den eine Studie der LA Times 2012 auslöst, als sie ermittelt, dass die knapp 6.000 Mitglieder der Academy zu 94% weiß, im Schnitt 62 Jahre alt und zu 77% männlich sind. Das ist keine Verschwörung, es ist die Folge eines Auswahlprozesses, der jahrelange Erfahrungen voraussetzt, durch lebenslange Mitgliedschaft begünstigt wird und Dank des Empfehlungssystems Seilschaften bevorzugt. Gewisse Parallelen zu Politiker-Logen sind hier durchaus erkennbar!

Die meisten „jungen“ Mitglieder finden sich im Schauspieler-Zweig, was nur logisch ist. Anders als in den anderen Zweigen finden sich immer wieder auch einmal Teenager, die die Bedingungen erfüllen, oder durch eine Oscar-Nominierung in die Academy eingeladen werden. Eines der jüngsten Mitglieder, die je der Academy beigetreten sind, ist Anna Paquin, die 1994 den Oscar für die beste Nebenrolle in DAS PIANO erhält und mit elf Jahren Mitglied wird. Sie erinnert sich daran, dass sie es genossen habe, im Zuge der Oscarverleihungen all die Filme nach Hause geschickt zu bekommen, die in ihrer Heimat Neuseeland erst Monate später erschienen, und die sie in ihrem Alter noch gar nicht offiziell hätte sehen dürfen. Als sie später an einigen Veranstaltungen teilnimmt, erkennt sie jedoch schnell, dass sie vor allem mit älteren Herren in einem Raum sitzt.

Allerdings ist sich die Academy der Kritik an ihrer Zusammensetzung bewusst und beginnt gegenzusteuern! Im Versuch, die Realität der Filmwelt in ihre eigenen Reihen aufzunehmen, will man die diese mit mehr Vielfalt ausstatten. Auffällig ist, dass die Anzahl neuer Einladungen in den letzten Jahren auf ca. 270 pro Jahr gestiegen ist. Man bemüht sich um „andere“ Typen, wozu spanische und mexikanische Filmemacher gehören, aber auch Jungstars wie Lupita Nyong’o oder Barkhad Abdi, der mit nur einem einzigen jemals gedrehten Film eingeladen wird.
Natürlich geschieht so ein demographischer Wandel nicht über Nacht. Experten meinen, dass er allerdings bereits zu beobachten sei, wenn etwa Filme wie DISTRICT 9 oder BEASTS OF THE SOUTHERN WILD bedacht werden, „klassisches Oscarfutter“ wie SAVING MR. BANKS oder THE BUTLER aber außen vor bleiben.
Im Jahr 2000 erhält Haley Joel Osment eine Oscarnominierung für THE SIXTH SENSE und wird in die Academy eingeladen. Mit zwölf wird er eines der jüngsten Mitglieder, obwohl sein Eindruck auf die Filmwelt überschaubar bleibt. Über die Sinnhaftigkeit der Mischung aus "jungen Wilden" und "alten Hasen" herrscht Uneinigkeit.
Quelle: Blu Ray "The Sixth Sense" © Walt Disney Studios
Und genau hier zeigt sich, wieso die Nominierungslisten der Oscars so wichtig: Mit der Frage, wen die Academy Mitglieder nominieren, ehren sie eben nicht allein die Qualität einer einzelnen Leistung, sondern sie setzen auch ein filmpolitisches Zeichen: Eine Nominierung für den Oscar ist der einzige Weg, junge, frische, „andere“ Talente in die Academy zu holen. Deshalb hagelt es Kritik, wenn die Academy einen Film wie SELMA im Jahr 2015 ignoriert, und weder den schwarzen Schauspieler David Oyelowo noch die schwarze, (weibliche!) Regisseurin Ava DuVernay nominiert – die Academy bringt sich damit um die Möglichkeit, ihre Mitgliederreihen der Realität anzupassen. Und weder Oyelowo noch DuVernay erfüllen die Bedingungen für eine reguläre Empfehlung!

Der unbekannte Hollywood-Job


Dass die Academy ein Zusammensetzungsproblem hat, ist unleugbar. Aber wie ernst kann man nun die Vergabe des Oscars nehmen? Ist er wirklich nur ein durch Medienkampagnen erkaufbarer Preis, der lediglich als Werbemaßnahme für mittelmäßige Werke dient?

Das ist nicht völlig verkehrt – aber die Wahrheit ist, wie üblich, deutlich komplexer!
Eine beliebte Verschwörungstheorie besagt, dass Regisseure, die selbst Schauspieler sind, häufiger gewinnen, weil der große Schauspieler-Zweig der Academy ihnen ihre Stimme gibt. Dass diese Theorie nur bedingt haltbar ist, zeigt ein Blick auf die Regularien der Preisvergabe. Denn wie sonst auch, bleibt die Academy selbst bei den Academy Awards fast bis zum Ende streng innerhalb ihres Zweig-Systems.

Jedes Jahr schlagen die Mitglieder eines Zweigs diejenigen Künstler ihrer eigenen Profession vor, die sie gerne für einen Oscar nominieren würden. Aus diesen Listen erstellt das Präsidium des Zweigs eine Shortlist, die es seinen Mitgliedern vorlegt. Aus dieser Shortlist wählt der Zweig schließlich seine Favoriten – die am Ende die Nominierten in der entsprechenden Kategorie stellen.
Erst wenn die Nominierungen feststehen, wählt jedes Mitglied den seiner Ansicht nach preiswürdigsten Nominierten der einzelnen Kategorien!
So können Schauspieler zwar für Regisseure stimmen, legen aber nicht die Nominierungen fest.
Einzige Ausnahme: Die Nominierungen der Kategorie „Bester Film“ wird aus den Vorschlägen sämtlicher Academy Mitglieder zusammengestellt.

Am Ende gewinnt für gewöhnlich der Film, oder der Künstler, der die meisten Mitglieder für sich einnehmen kann. Und das bringt einen der unbekannteren Jobs Hollywoods mit sich: den Awards-Consultant!

In den Neunzigern verändert der umtriebige Produzent Harvey Weinstein das Oscar-Geschäft nachhaltig. Er hat ein Gespür für unbekannte, kreative Köpfe (etwa Quentin Tarantino) und für kleine, herausragende Filme, die allerdings kaum wahrgenommen werden. Er beginnt, mehr oder weniger elegant und dezent, zielgerichtete Kampagnen für seine Filme zu organisieren, um bei den Academy-Mitgliedern aufzufallen. Eine seiner frühen Methoden sieht ein Call-Center vor, das die Academy Mitglieder abklappert und Werbung für Weinsteins Filme macht.

Das ist mittlerweile tatsächlich verboten – dennoch entwickelt sich aus Weinsteins Bemühungen der Job des Award-Consultants. Diese, auch Oscar Strategists genannten, PR Strategen werden von Studios oder Stars angeheuert, um bestimmte Filme möglichst effizient vor den Augen der Academy-Mitglieder zu platzieren.
THE ARTIST ist einer der großen Gewinner des Awards-Consultings: Lisa Taback gelingt es, ihn den Academy Mitgliedern emotional besonders nahe zu bringen. Das macht ihn aber nicht zu einem schlechten Film oder den Preis zu einem "gekauften".
Quelle: DVD "The Artist" © EuroVideo Medien GmbH
Eine der bekanntesten Oscar-Consultants ist Lisa Taback, die das Geschäft in Harvey Weinsteins Produktionsfirma perfektioniert. Dort hat sie schon für PULP FICTION erfolgreich die Oscartrommel gerührt. Seither hat sie eine Menge Erfolge vorzuweisen: PRECIOUS, BABEL, CHICAGO, und besonders ihre großen Sieger mit WINTER’S BONE, SILVER LININGS, SHAKESPEARE IN LOVE, THE KING’S SPEECH und THE ARTIST. Aber auch ausländische Erfolge wie DAS LEBEN IST SCHÖN, KOLJA oder DIE FABELHAFTE WELT DER AMÉLIE gehen auf das Konto der umtriebigen PR-Dame.

Was aber tut ein Oscar Strategist? Lisa Taback stellt fest: „Die Leute denken immer, wir hätten ein Kontingent von Mitgliedern, denen wir sagen könnten, was sie ankreuzen sollen. Tatsächlich haben wir recht wenig direkten Kontakt. Wenn den Mitgliedern 80 Filme vorgelegt werden, können wir höchstens sagen: ‚Wir haben da diesen kleinen, tollen Film, schaut euch den doch einmal an, der ist es wirklich wert‘. Am Ende ist es unser Job, die Mitglieder dazu zu bringen, den Film zu sehen. Direkten Einfluss haben wir keinen.“
Sony Pictures‘ ehemaliger PR-Chef Steve Elzer ergänzt dazu passend: „Am Ende können diese Leute auch nur einen Schlachtplan ausarbeiten, um die Filme vor die richtigen Zuschauer zu bringen. Wenn es soweit ist, muss der Film selbst glänzen und ganz allein die Schwerstarbeit verrichten.“

Ein bisschen mehr versuchen Profis wie Lisa Taback aber schon. Natürlich wollen sie Aufmerksamkeit für die Filme erregen. Dazu beraten und organisieren sie Talkshowauftritte, Beiträge in Fachmagazinen und bemühen sich, interessierten Academy-Mitgliedern, die Mühe haben, eine Vorstellung der Filme zu finden, ihnen den Kinobesuch zu ermöglichen. Vor allem aber suchen sie einen Weg, die Filme zu emotionalisieren! Sie wollen die Filme in den Herzen der Academy verankern, und das Erlebnis möglichst intensivieren.

Dabei kann auch einmal ein Trick herhalten. Lisa Taback berichtet beispielsweise von ihrem Campaigning zu THE ARTIST, für den sie mit dem Versand der Probe-DVDs bis zum Stichtag der Wahl wartet – so will sie die Mitglieder „zwingen“, sich den Film auf der großen Leinwand anzuschauen, mit Publikum, was erfahrungsgemäß ein weit emotionaleres Erlebnis bietet als der stille DVD Genuss. Sie hält nichts davon, die Mitglieder mit teuren Essen und schicken Galas zu beeindrucken, für sie liegt der Erfolg eines Films auf der Leinwand: „Ich versuche nicht, die Filme als glorreich oder edel darzustellen, sondern sie für die Mitglieder zugänglich zu machen, sie den Film spüren zu lassen.“ 
Hier liegt der Kern dessen, was den Oscar ausmacht! Natürlich findet im Umfeld der Preisverleihung ein massives „Campaigning“ statt. Viele Studios und Filmemacher buhlen um die Aufmerksamkeit und Zuneigung der Academy-Mitglieder, die ihrerseits nicht auf dem Mond leben. Neben der Qualität stimmen die Mitglieder immer auch für das ab, was sie für unterstützenswert halten, oder was sie persönlich betrifft. Von daher spiegeln viele Entscheidungen der Academy durchaus andere Beweggründe wider als das reine Qualitätsmerkmal.
2015 (und auch 2016!) entbrennt eine Debatte darüber, dass in den großen Kategorien keine schwarzen Künstler nominiert wurden, vor allem für das oscarreife Drama SELMA. Hier verpasst die Academy eine gute Chance, die eigenen Reihen mit Diversität zu füllen.
Jetzt im Kino: "Selma" © STUDIOCANAL
Zwei schöne Beispiele findet man beispielsweise im „Bester Film“ Sieger 12 YEARS A SLAVE, der damit leben muss, dass sich einige Mitglieder outen, den Film zwar nicht gesehen zu haben, aber dennoch dafür gestimmt zu haben, weil er ein wichtiger Film sei.
THE ARTIST kann sich gegen Scorseses auch inhaltlichen Konkurrenten HUGO CABRET durchsetzen, weil es Lisa Taback nach eigener Aussage gelingt, ihn besser zu positionieren: „Der Schlüssel für den Sieg von THE ARTIST war, dass wir herausgestellt haben, dass der Film in Los Angeles gedreht wurde.“ Taback kann Charlie Chaplins Enkeltöchter Dolores und Carmen Chaplin dazu bringen, sich für den Film auszusprechen. Sie vermarktet THE ARTIST für die Mitglieder als ein Stück eigener Geschichte und „zu Hause“. Ein Film über die Filmkunst, die Filmliebe, über einen Schauspieler, über Los Angeles – den Großteil der Academy Mitglieder spricht das persönlich an, womit es ein guter Weg ist, sie dazu zu bringen, für den Film zu stimmen.

Am Ende allerdings sind es eben doch immer noch die Filme selbst, oder die künstlerischen Leistungen, die den Großteil der Academy-Mitglieder berühren und bewegen müssen. Das, und das hohe Maß an Schauspielern in der Academy, führt dann auch dazu, dass unter den Oscar-Gewinnern Filme über Künstler, darstellerisch schwere Rollen wie Behinderte, oder Filme über aktuelle oder emotionale Weltthemen, eben alles, was das einzelne Academy-Mitglied persönlich tangiert, so überproportional häufig vertreten ist.

Und was ist er nun, der Oscar?


Natürlich spiegeln die Oscars nicht die beste Leistung eines Filmjahres wider. Viele Oscarfilme sind nicht einmal finanziell besonders erfolgreich, und die großen Blockbuster, die im Sommer Milliarden einspielen, werden für gewöhnlich – wenn überhaupt – höchstens in den Nebenkategorien für ihre Effekte oder ihren Sound nominiert.
Aber der Oscar geht eben häufig an jene kleinen, stillen Filme, die gut gemacht sind – und dank eines guten Campaignings gut an die Academy verkauft werden. Am Ende gibt es immer eine Menge „Gewinner“ im Oscarrennen, denn schon die Debatte um die Oscar-Chancen eines Films oder eines Künstlers ist gute Werbung.

Lisa Taback erzählt, dass sie keinerlei Probleme damit habe, jedes Jahr für mehrere, konkurrierende Filme oder Stars zu arbeiten, aus einem ganz einfachen Grund: Sie liebe die Filme, für die sie arbeite. Ihr Liebe zu Independent-Filmen habe sie in die Branche gebracht, und sie freue sich, wenn sie einige besondere Perlen aus ihrem „Arthouse-Ghetto“ herausführen und wenigstens für einen Augenblick ins große Rampenlicht der Welt stellen könne. Jeden Besucher, den sie mit ihrer Arbeit für diese Filme zusätzlich ins Kino bewegen könne, scheint ihr ein Erfolg und eine Belohnung zu sein.
Für kleine, fantasievolle Randfilme wie BEASTS OF THE SOUTHERN WILD dient der Oscar als wundervolle Möglichkeit, ein überregionales Publikum zu finden. Das arbeitet den Zielen der Academy, "Neues" und "Künstlerisches" in die Filmwelt zu bringen, enorm zu.
Quelle: DVD "Beasts of the Southern Wild" © Ascot Elite Home Entertainment
Insofern ist jede Bewertung des Oscars korrekt:
Ja, der Preis ist ein hochwertiges Qualitätsmerkmal: Hunderte, oder tausende der erfahrensten und einflussreichsten Filmemacher der Welt entscheiden darüber, welcher Star und welcher Film einen Oscar erhält.
Ja, die Academy ist ein elitärer Club alter, weißer Männer, die sich seit Jahrzehnten selbst an der Spitze des Geschäfts halten – ehrenhaft ist ihr Versuch, diese Zusammenstellung allmählich anzupassen.
Ja, der Oscar ist ein Preis, dessen Vergabe massiv durch Werbung, Wahlkampf und Trendthemen beeinflusst wird, nicht allein dadurch, dass ein Film der erfolgreichste Film des Jahres ist. (Und ja, auf den persönlichen Lieblingsfilm einzelner Kinogänger nimmt er gleich gar keine Rücksicht!)
Ja, der Oscar ist ein wichtiges Marketinginstrument, denn er hebt kleine, unterfinanzierte Independent Filme aus der Masse heraus, präsentiert sie der Welt im Umfeld all dessen, was glamourös und strahlend ist, und bringt so mehr Zuschauer. (Daher spart er die großen Mainstreamfilme auch mehr oder weniger konsequent aus.)

Der Oscar ist all das: Film, Emotion und Geschäft – er ist das perfekte ambivalente Sinnbild für Hollywood, für die ambivalente Filmwelt allgemein, mit all ihren Facetten von Licht und Schatten, und vielleicht gerade deshalb der beste, der passendste, auf jeden Fall der wichtigste Filmpreis der Welt! 

Nutzt er denn was, der Oscar?


Die Meinungen sind auch hier gespalten. Manche sehen den Oscar als Krönung einer Karriere, andere als unbedeutende, kurzfristige Auszeichnung eines Einzelwerks. Wir gehen dieser Frage daher im zweiten Teil unseres Porträts nach: Macht und Makel des Oscars - Teil 2: Der Charme des goldenen Ritters - Die Oscars.

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