16.03.16

Raum (IE/CA 2015) - Liebe und Hoffnung im Angesicht des Grauens

Mit RAUM startet bereits jetzt einer der besten und bewegendsten Filme des Jahres.
RAUM ist ein wunderbares und lebensbejahendes Werk über bedingungslose Liebe, noch dazu die vermutlich stärkste Liebe die es gibt: die Liebe zwischen einer Mutter und ihrem Kind.
Diese Liebe kontrastiert der Film mit einem der bösartigsten Verbrechen, das ein Mensch einem anderen antun kann.
Und all das erzählt er, beinahe märchenhaft, aus einer ganz und gar ungewöhnlichen Perspektive: durch die unschuldigen Augen eines Kindes.
© Universal Pictures Germany GmbH
Marcos Blick:

RAUM ist einer dieser Filme, die einem direkt in die Magengrube fahren, und gleichzeitig ins Herz. Und in die Seele. Und auch wenn der Film nicht perfekt ist, macht er so vieles richtig, dass man ihm seine wenigen Fehler nicht einmal vorwerfen mag.
Doch beginnen wir am Anfang.

Welt auf neun Quadratmetern


„Guten Morgen Bett, guten Morgen Lampe, guten Morgen Pflanze, guten Morgen Raum!“ Der kleine Jack hat nicht lange damit zu tun, der Welt einen guten Morgen zu wünschen. Zusammen mit seiner Mutter, „Ma“, lebt er seit seiner Geburt in Raum. Raum ist knapp neun Quadratmeter groß. Ein kleines Oberlicht, durch das man ab und an „Wolke“, „Himmel“ und „Sonne“ sieht, ist alles, was irgendwie hinausführt. Die andere Seite von Wand hat Jack noch nie gesehen.
Von Zeit zu Zeit kommt der „Alte Nick“, um Jack und Ma mit dem Notdürftigsten zu versorgen, doch den bekommt Jack selbst dann nicht richtig zu sehen.
Eines Tages aber geschieht etwas, das Jacks Leben radikal aus der Bahn wirft. Und vielleicht wird es Zeit, „Raum“ für immer auf Wiedersehen zu sagen. Doch wie lässt man die einzige Welt zurück, die man kennt?

RAUM schickt seine Zuschauer auf eine sonderbare Reise. Wir kannten die Romanvorlage nicht und hatten das Glück, herzlich wenig über die Hintergründe des Films zu wissen, als wir den Film sahen, wodurch wir zu Beginn in den Genuss kamen, raten zu können. Wie sind Jack und Ma in Raum gelandet? Welche Geschichte verbirgt sich dahinter?
Da uns dieses Gefühl so fasziniert hat, möchten wir in diesem Teil unserer Review die Spannung aufrecht erhalten. Mehr als genügend Rezensionen im Netz plaudern diese Hintergründe aus, und der Film wird dadurch nicht schlechter, dennoch wollen wir uns die Erklärungen aufsparen. Bianca wird sich im zweiten Teil unserer Besprechung genauer mit den Hintergründen und den düsteren Abgründen beschäftigen, die RAUM umgeben. Wer also unbelastet bleiben will, darf diesen Teil ungefährdet lesen und später gerne noch einmal für Biancas Analyse zurückkehren.

RAUM nimmt sich nämlich Zeit dafür, die kleine Welt aufzubauen, in der Jack lebt. Erst nach gut fünfzig Minuten, wenn wir mit Raum vertraut sind, wenn wir akzeptiert haben, dass wir diesen Film durch Jacks Augen sehen werden, öffnet er sich, und offenbart das Grauen, das sich hinter all dem verbirgt.
Doch genau das ist das Wunder dieses Films: All die schrecklichen Erkenntnisse und Geheimnisse, die sich uns offenbaren, erleben wir durch Jacks staunende Augen. Das macht den Großteil der zweiten Hälfte zu etwas so Zauberhaftem, und kulminiert in einer der besten Schlussszenen die uns einfallen könnten: Diese funktioniert, wie schon der ganze Film, wunderbar ironisch auf zwei Ebenen: Auf der unschuldig kindlichen, die Jack uns die ganze Zeit näher gebracht hat, und auf der erwachsenen, auch für uns Zuschauer nachvollziehbaren Ebene, die Ma uns erleben lässt.
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Die letzte Szene bündelt alles im Film Gesehene, die zwei dargelegten Perspektiven ein und derselben Geschichte, zwei unterschiedliche Abschiede, derartig pointiert und treffend, dass es bei uns noch lange anhielt und darüber nachgrübeln ließ, was den Film so besonders macht.

Brie wer?


Eine Besonderheit des Films sind die Darsteller. 
Mit RAUM katapultiert sich eine Schauspielerin, zwar nicht aus dem Stand, aber doch aus dem Windschatten direkt an der Spitze der Liste unserer Lieblingsschauspielerinnen.

Brie Larson wird 1989 als Brianne Desaulniers in Kalifornien geboren. Ihren Künstlernamen legt sie sich zu, nachdem die Leute wiederholt daran scheitern, ihren Namen richtig auszusprechen.

Die heute 26-Jährige beginnt ihr öffentliches Leben neben der Schauspielerei auch als jugendliche Popsängerin – eine Karriere, die sie heute lieber verschweigt.
Mit neun liefert sie erste kleine Fernsehrollen ab und ergattert mit zwölf eine Rolle in der kurzlebigen Sitcom RAISING DAD – WER ERZIEHT WEN? an der Seite von Bob Saget und Kat Dennings. Erste Kinorollen folgen, von denen kleine Auftritte in 30 ÜBER NACHT und SCOTT PILGRIM VS. THE WORLD vermutlich die größten sind. In UNITED STATES OF TARA hat sie, erneut im Fernsehen, ihre erste etwas erfolgreichere Rolle, bevor sie in 21 JUMP STREET und DON JON auch im Kino erstmals richtig auffällt.
Endlich ergattert sie ihre erste Hauptrolle: In dem Indie-Drama SHORT TERM 12 gelingt es ihr zum ersten Mal, einen Film zu führen, ihre Reichweite zu zeigen und das Publikum restlos zu begeistern.
Doch RAUM wird Larsons endgültiger Durchbruch. Und was für einer!

Larson bereitet sich penibel auf die Rolle vor. Dazu gehört auch, dass sie sechs Monate der Sonne ausweicht, um einen entsprechend blassen Teint im Film zu haben und sieben Kilo abzunehmen.
Sie verbarrikadiert sich einen Monat zu Hause, ernährt sich nur vom Nötigsten, um ein Gespür dafür zu bekommen, wie Ma und Jack in Raum leben. Sie schottet sich von der Außenwelt ab, wodurch ihr einige Kinderheitstraumata über die Scheidung ihrer Eltern und das gemeinsame Leben mit ihrer Mutter und Schwester in einer winzigen Wohnung hochkommen. Gefühle, die sie später in den Film einfließen lässt.

Und das Ergebnis ist eine Meisterleistung. Larson spielt die möglicherweise komplexeste Frauenfigur des Jahres: eine junge Mutter, hin und hergerissen zwischen Liebe, Hass und Verzweiflung, die trauern, hadern und mit einem Schicksal umgehen muss, das kein Mensch je erleben sollte. Die, später, dieses Schicksal verarbeiten und mit einer Welt klarkommen muss, die ihr fremd ist. Und die dabei doch immer stark bleiben will, für ihren Sohn, dem sie Dinge erklären muss, für die es keine Erklärung gibt. Larson hat die schwierige Aufgabe, die Zuschauer abzuholen, obwohl sie nicht im Mittelpunkt steht, und in den wenigen Worten der Erklärung, die sie an ihr Kind richtet, auch die vielen unausgesprochenen Worte an die Zuschauer vermitteln muss.
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Larson selbst erklärt, dass der Film eine seltsame Verkehrung mit sich bringt. Zu Beginn des Films, als Ma mit Jack in Raum lebt, als die Welt gefährlich ist, ist ihre Figur emotional verhältnismäßig einfach zu spielen, da sie einzig auf das Ziel ausgerichtet ist, ihrem Sohn ein lebenswertes Leben zu ermöglichen, voller Liebe und abgeschottet vom Grauen. Es herrscht beinahe emotionale Geborgenheit, solange sie sich ganz auf dieses eine Ziel ausrichten kann.
Erst als die Situation sich ändert, als die Welt sich öffnet und die reale Gefahr schwindet, beginnt für ihre Figur die emotionale Tortur, wird ihre Gefühlswelt selbst zur Gefahr. Gerade diesen Wechsel zu beobachten, das Straucheln und Stürzen, das Ma erlebt, als Raum zurückbleibt, macht den Film jedoch so sehenswert und Larsons Leistung so enorm.

All das erledigt die junge aber erfahrene Schauspielerin mit Bravour und bietet die - ausgehend von dem, was wir gesehen haben - mit Abstand beste Leistung des Jahres. Das findet auch der Award-Zirkel: 54 Mal wird sie für ihre Darstellung der Ma für alle möglichen Preise nominiert, 38 Mal nimmt sie den Preis entgegen, darunter die fünf größten der internationalen Branche: den Critics Choice Award, den SAG-Award, den Golden Globe, den BAFTA und schließlich auch den Oscar als beste Hauptdarstellerin.

Dabei will Larson als Teenagerin lange der Schauspielerei den Rücken kehren. Sie findet die Arbeit mühsam und erhält ohnehin nie die Rollen, die sie sich wünscht. Neben ihrer Gesangskarriere überlegt sie, Fotografin zu werden, Tiertrainerin oder Innenausstatterin. Zu unserem Glück ist sie beim Schauspiel geblieben.

Und zum Glück für die Kollegen. Larson ist schon jetzt eine der populärsten Schauspielerinnen am Set, wo immer sie auftaucht. John Goodman etwa erklärt, dass Larson einer der wenigen Kollegen ist ist, den er von Herzen mag. Beide arbeiten gemeinsam am Set von KONG: SKULL ISLAND, und Goodman erzählt, wie Larson, die nahezu einzige Frau am Set, immer in Sorge gewesen sei, am Set könne negative Stimmung entstehen. So organisiert sie jedes Wochenende eine große Unternehmung für das Team. Und auch Regisseur Abrahamson erklärt, dass er beim ersten Treffen überzeugt war, in der warmherzigen Schauspielerin die perfekte Ma gefunden zu haben.

Der Star (Wars) im Frack


Und doch spielt Larson im Film am Ende nur die Nebenrolle. Denn am Ende lastet der etwas schwerere Teil des Films auf den schmalen Schultern des jungen Jacob Tremblay, der einen als Zuschauer noch stärker begeistert als irgendein anderer Schauspieler in RAUM.
Tremblay ist acht Jahre alt, als die Dreharbeiten zu RAUM beginnen, und wird aus einer gigantischen Menge an Kindern ausgesucht. Der Junge hat bereits Film- und Fernseherfahrung, aber noch nie eine so große Rolle gespielt.
Regisseur Lenny Abrahamson ist dennoch begeistert. Ihm wird schnell klar, wie ungemein intelligent der Junge ist. So gelingt es Tremblay auch, all die Facetten des völlig aus der Bahn geworfenen Jack perfekt auf die Leinwand zu übertragen. Auch wenn es dafür manchmal eines Tricks bedarf.

Abrahamson ahnt nicht, auf was er sich mit seinem Kinderstar einlässt. Zwar kennt er nur lobende Worte für Tremblay, und er ist auch clever genug, Tremblay und Larson schon drei Wochen vor Drehbeginn jeden Tag stundenlang zusammen zu bringen. Die beiden verbringen die Zeit in dem echten Raum, der mit herausnehmbaren Wänden nachgebaut wurde, freunden sich mit der Umgebung an, spielen, und erstellen etliche von Jacks Requisiten-Spielzeugen. Später werden sie, und das Team, fünf Drehwochen in diesem Raum verbringen.
Abrahamson erklärt, dass er neben ein wenig Regiearbeit vor allem als Kinderpsychologe habe arbeiten müssen. Denn: Wie bekommt man ein Kind dazu, etwas vor der Kamera zu tun, bei dem er sich unwohl fühlt?
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Abrahamson dreht den Film chronologisch, um Tremblay die Arbeit zu erleichtern, damit er sich nicht in jeder Szene in eine andere Gemütsstimmung bringen muss, dennoch gibt es Hindernisse. So verlangt das Drehbuch an einem der ersten Drehtage, dass Jack seine Mutter anschreit. Doch Tremblay fühlt sich gar nicht wohl dabei, am Set herumzubrüllen und Brie Larson anzuschreien, mit der ihn bereits eine enge Freundschaft verbindet. Stundenlang kann ihn niemand bewegen, bis Abrahamson die Idee kommt: Er befielt dem gesamten Set, sich den Rest des Tages nur noch anzubrüllen, bei jedem Gespräch. Kurz darauf ist die Stimmung gelöst, Tremblay fühlt sich deutlich sicherer und schafft es, eine lautstarke Szene in den Kasten zu bringen.

Generell liefert Tremblay eine der bemerkenswertesten schauspielerischen Leistungen des Jahres ab, mit und ohne Berücksichtigung seines Alters. Die Szene etwa, in der er zum ersten Mal den offenen Himmel sieht, berührt allein durch Tremblays Spiel mit den Augen.
Auch er wird zahlreich nominiert, insgesamt 34 Mal, wovon er 14 Mal gewinnt. Bei den großen Preisen geht Tremblay jedoch leer aus, mit Ausnahme des Critics Choice Awards, den er prompt erhält, und immerhin einer Nominierung bei den SAG-Awards.
Dass er bei Golden Globes, BAFTA und Oscar nicht bedacht wird fällt auf – an seiner Leistung wird es nicht gelegen haben, was den Verdacht nahelegt, dass man ihn aufgrund seines Alters ein wenig schonen wollte. Doch auch ohne diese Ehrungen entwickelt er sich zum Superstar der Award-Season 2016: Wo immer er in seinem kleinen Smoking auftaucht, rührt der extrem smarte, höfliche und witzige Tremblay zu herzhaften „Awwww!“-Rufen. Er witzelt und schäkert mit den Interviewern und bringt eine ordentliche Portion Star Wars- Fandom auf die roten Teppiche. Seinen Critics Choice Award, verkündet er etwa in seiner Dankesrede, wird er neben seinen Millenium Falcon stellen. Und gerne korrigiert er Interviewer über alle möglichen irrigen Star Wars Fakten. Ein echter Fanboy eben.
Mit Brie Larson, die ebenfalls stets anwesend ist, gibt er eines der bezauberndsten Paare der Award-Season ab, und Larson gibt freimütig zu, das sie den Trubel ohne Tremblays herzerfrischend offene Art nicht überstanden hätte.
Wir können nur hoffen, dass Tremblay gefestigt genug ist, und ausreichend Glück hat, um aus seiner aufsehenerregenden Leistung eine spannende Karriere zu stricken, und nicht als Kinderstar zu versacken. Wir wünschen ihm in jedem Fall viel Glück und freuen uns, ihn bald wieder auf der Leinwand zu sehen.

Der Naturphilosoph im Raum


Regisseur Lenny Abrahamson wird 1966 in Dublin geboren und studiert zunächst Physik und Philosophie – eine spannende Mischung, die sein Werk irgendwie passend widerspiegelt oft im Grenzbereich zwischen Realität und Philosophie. Bereits sein Abschlusswerk, der Kurzfilm 3 JOES (mit Dominic West!) gewinnt 1991 etliche Preise.
Erst 2004 dreht er jedoch seinen ersten Spielfilm, ADAM & PAUL, eine kantige Komödie über zwei Junkies in Dublin.

Seither hat Abrahamson erst vier weitere Filme gedreht (und einen Experimentalfilm) sowie eine Miniserie fürs Fernsehen, doch allesamt wurden sie von Publikum und Kritikern hochgelobt und nicht selten mit kleineren Preisen überschüttet.

2014 schließlich gelingt Abrahamson sein erstes internationales Projekt, das sofort für Aufsehen sorgt: Das ungewöhnliche Musiker-Biopic FRANK wird zu einem weltweiten Geheimtipp und überall hoch gelobt.
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Mit RAUM hat Abrahamson sich nun endgültig als neuer Top-Regisseur empfohlen. Für den Film erhält er seine erste Oscarnominierung und weltweite Anerkennung. Zu Recht, wie wir finden, denn ihm gelingt es, aus der Geschichte und seinen beiden Stars das Optimum herauszuholen – vor allem, da er mit dem richtigen Gespür für den besten Fokus an die Geschichte herangeht.
Genau das verschafft ihm Job auch.

Zehn Seiten


Denn mit diesem Fokus sichert er sich die Aufmerksamkeit und Begeisterung  von Emma Donoghue, die die Vorlage zu RAUM schreibt.

Emma Donoghues Roman „Room“ soll 2010 erscheinen, doch schon vorher ist ganz Hollywood heiß auf den Stoff. Wie die Legende erzählt, erhält Donoghues Agentin so viele Anfragen für die Filmrechte, dass ihr Computer abstürzt.
Aus der Masse heraus ragt der zehnseitige Brief von Regisseur Abrahamson, der den Stoff unbedingt umsetzen will. Donoghue erklärt, dass ihr sofort gefallen habe, dass Abrahamson als einer der wenigen die Essenz der Geschichte erkannt habe. Nicht das Schlechte, das Böse, das die Handlung umgibt sieht er im Fokus der Geschichte, sondern die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind.

Donoghue fliegt nach Irland, um sich mit Abrahamson zu treffen. Doch sie verkauft ihm die Rechte nicht einfach, sondern beschließt noch an Ort und Stelle, mit ihm und seinem Produzenten Ed Guiney zusammen zu arbeiten.
„Wir wollten es niemand anderem in die Hände geben“, erklärt Donoghue. „Also haben wir uns gefragt, wieso machen wir es nicht einfach zusammen?“
Ohne Vertrag oder Finanzierung verbringt Donoghue zwei Jahre damit, ihren Roman in ein Drehbuch umzuwandeln – für das sie schließlich eine Oscarnominierung erhält.

Anschließend sammelt man ein Budget von 12 Millionen zusammen und nutzt einen Steuervorteil aus, indem man eine irisch-kanadische Coproduktion startet.

Am 4. September 2015 feiert RAUM seine Premiere beim Telluride Film Festival. Vom ersten Augenblick an verzaubert und begeistert er das Publikum. Am 17. März 2016 startet der Film endlich auch in Deutschland.

Fazit


Und wir können dem Film – auch wenn er wie gesagt zwei, drei Kritikpunkte mitbringt, von denen der größte wohl darin liegt, dass das Buch noch wuchtiger ist, einen noch stärker in Jacks Welt hineinzieht uneingeschränkt empfehlen.

RAUM ist Kino in Reinkultur: ein emotionales Abenteuer, einer jener Filme, die lange nachhallen, und die man nur schwer wieder vergisst. Es ist ein Film, der einen emotional fordert, ohne einen jedoch restlos runter zu ziehen.
Die Idee der Geschichte ist so simpel, wie die Umsetzung brillant. Eine Eingebung, die jeder Autor sich nur wünschen kann.

Das Drehbuch fokussiert sich auf exakt die richten Augenblicke und Fragen – anstatt den Fehler zu begehen, eine düstere, klischeebeladene Opferstory zu erzählen, gelingt es dem Film, auch durch die ungewöhnliche Perspektive des Jungen, dass man hier aus einer tragischen Geschichte ein mitreißendes und positives Erlebnis macht, das die schwerste aller Fragen stellt: Wie überlebt die Liebe, wenn sie von unvorstellbarem Leid umschlossen ist? Und welche Verantwortung erwächst aus einem Kind, das Unschuld und Strafe zugleich ist?
Auch wenn man während des Films oft das Gefühl hat, dass die wahren Emotionen der Figuren viel größer sind – oder sein müssten – als man es auf der Leinwand erlebt, ist die Reduktion des Films und die unaufgeregte Inszenierung genau das, was die Geschichte erträglich macht.
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Das herausragende Spiel der beiden Hauptdarsteller tut sein übriges, um den Zuschauer mit auf diese schwierige Reise zu nehmen, an deren Ende eine Abschlusszene steht, die all die Themen des Films noch einmal perfekt einfängt. Wer sich dieses sensationelle Filmereignis entgehen lässt, ist selbst Schuld.

- Spoilerwarnung -
RAUM ist kein Film, der von irgendeiner Wendung lebt, und viele Reviews und selbst der Trailer lassen keinen Zweifel daran, was Ma und Jack widerfahren ist. Kenner des Romans sind ohnehin nicht zu überraschen. Der Filmgenuss wird also kaum geschmälert, wenn man weiß, wieso die beiden in Raum festsitzen. Wer es jedoch nicht weiß, und sich das Rätseln eine Weile erhalten will, geht den Trailern und dem nun folgenden Teil unserer Review aus dem Weg, und kommt später noch einmal wieder. Dann kehren wir gemeinsam in die echten Untiefen des „Raums“ zurück.

Biancas Blick:

Als wir RAUM auf der Pressevorführung sahen, wussten wir nicht das Geringste über die Hintergründe der Handlung. Und es war spannend zu raten, wieso Jack und Ma in Raum festsitzen und wer genau „Old Nick“ ist, der die beiden immer wieder besucht.
Doch kaum löste sich das Geheimnis auf, machte sich Unbehagen breit. Und man wusste augenblicklich, woher Autorin Donoghue ihre Idee genommen hatte.

Für die Recherchen zu diesem Artikel haben wir uns deshalb noch einmal intensiv mit dem Fall Josef Fritzl beschäftigt, der die Hauptinspiration zu RAUM liefert. Es war eine erschreckende und erschütternde Recherche, die den Film aber umso verständlicher und kostbarer macht.
Josef Fritzl, der seine eigene Tochter Elisabeth 24 Jahre lang in einer Kellergefängnis gefangenhielt. Der sieben Kinder mit ihr zeugte, von denen drei (nachdem ein viertes starb) bei Elisabeth mit im Verlies lebten. Als Elisabeth und ihre Kinder im April 2008 befreit werden, ist ihr Sohn Felix gerade fünf Jahre alt.
Der Fall macht weltweit Schlagzeilen, und inspiriert Emma Donoghue augenblicklich zu der Frage, wie der junge Felix, der nie die Außenwelt kennengelernt hat, und zu jung ist, das Konzept von Gefangenschaft zu begreifen, diesen Übergang wohl erlebt haben mag.
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Auch den Fall Natascha Kampusch haben wir zu Rate gezogen, um die Gefühle vor allem von Ma greifbarer zu machen, denn – vielleicht auch unbeabsichtigt – die Geschichte zu RAUM bietet auch Parallelen zum Fall Kampusch an, besonders in der zweiten Hälfte, nach der Befreiung. Mas Beziehung zum Entführer, ihre Eingewöhnung in die Freiheit und ein "normales" Leben, das mediale Interesse und der Umgang von Familie, Freunden, Fremden und Öffentlichkeit mit dem Opfer.

Das Ungeheuer von Amstetten


Der Roman „Raum“ lehnt sich an den Fall Josef Fritzl an, der sich zwischen 1984 und 2008 im österreichischen Amstetten ereignete.
Dass Fritzl, geboren 1935, durch die Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs schwer traumatisiert wird, steht wohl außer Frage. Nichtsdestotrotz ist sein Fall einer der schwärzesten und aufsehenerregendsten Kriminalfälle Österreichs, unfassbar und zutiefst verstörend.
Fritzl wächst den größten Teil seiner Kindheit bei Pflegeeltern auf, da seine Mutter als Kriminelle bis 1945 ihr Dasein im KZ Mauthausen fristet.
Später gibt er an, sich schon als Jugendlicher sexuell zu seiner Mutter hingezogen gefühlt zu haben, seinen Drang aber stets „unter Kontrolle“ gehabt zu haben.
Er absolviert eine Ausbildung zum Elektrotechniker und heiratet mit gerade mal 21 Jahren seine damals 17-jährige Freundin.
Mit 22 Jahren begeht Fritzl seine erste Vergewaltigung, wenig später eine versuchte Vergewaltigung. Er sitzt eine Haftstrafe ab, doch 1982, nach 15 Jahren werden diese Strafen aus dem Register gelöscht.
Mit seiner Ehefrau unterhält er ab 1973 einen Campingplatz und eine Gaststätte. Als diese abbrennt, gerät Fritzl in den 80er Jahren wieder in das Sichtfeld der Polizei, die Brandstiftung vermutet, doch das Verfahren wird eingestellt.

Seine 1966 geborene Tochter Elisabeth läuft mehrfach von zu Hause fort, da ihr Vater sie ab 1977 regelmäßig vergewaltigt.
Fritzl holte sie immer zurück, und niemand ahnt, was zu Hause vor sich geht.
1984 dann lockt er seine Tochter in den hauseigenen Keller, betäubt sie und hält sie dort bis 2008 in einem eigens angelegt Ausbau gefangen.
Weit über tausend(!) Mal vergewaltigt er Elisabeth und zeugt sieben(!) Kinder mit ihr. (Mit seiner Frau Rosemarie hat er ebenfalls bereits sieben Kinder.) Er lässt sie Briefe schreiben, die ihre Familie glauben machen, sie sei einer Sekte beigetreten.
Die drei mittleren mit ihr gezeugten Kinder legt er auf die eigene Türschwelle, stets mit einer Nachricht seiner Tochter, und der Bitte an die Eltern, sich um die Kinder zu kümmern, da sie es selbst nicht vermag.
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Niemand ahnt, dass Elisabeth im Keller eines Mietshauses, das Fritzl gehört, ihr Dasein fristet, niemand ahnt, dass die drei "offiziellen" Kinder (und vier weitere im Keller) der Vergewaltigung durch den Vater entsprungen sind. Zwar werden die Wohnungen des Hauses immer wieder vermietet (man vermutet über hundert Mieter in den 24 Jahren), doch niemand scheint mitzubekommen, dass nur wenige Meter unter ihnen eine junge Frau sitzt, mittlerweile mit drei Kindern, vom Vater misshandelt und missbraucht.

Die Entdeckung


Wie im Film angedeutet, ermöglicht die schwere Erkrankung eines der Kinder die Flucht aus dem Verlies: Kerstin, die älteste Tochter Elisabeths, erleidet mit 19 Jahren Krampfanfälle und Elisabeth überredet Fritzl, sie ins Krankenhaus bringen. Zwar gibt er an, sich bereits seit Jahren um diese junge Frau zu kümmern, angeblich von seiner Tochter vor seiner Tür abgelegt, doch weiß er keine Einzelheiten zum Krankheitsverlauf oder gesundheitliche Fakten. Über das Kind existieren keinerlei Unterlagen, was die Ärzte stutzig macht.
Die Schlinge zieht sich zu und Fritzl ist gezwungen, seine Tochter sowie die letzten bei ihr lebenden Kinder frei zu lassen. Seine Geschichte, Elisabeth sei die nach Hause zurückgekehrte Tochter, glaubt ihm jedoch niemand mehr.

DNA-Tests bringen das Unaussprechliche zutage: Alle sechs Kinder sind die von Fritzl!
Im März 2009 muss sich Fritzl wegen Mordes durch Unterlassung, der Entsorgung des Babys (Felix' Zwillingsbruder starb im Alter von drei Tagen – Fritzl verbrennt ihn im Heizofen), Vergewaltigung, mehrfachen Freiheitsentzugs, schwerer Nötigung und Blutschande vor Gericht verantworten. Erstmals in Österreich wird auch der Tatbestand der Sklaverei verhandelt.
Der junge Felix sieht bei seiner Befreiung erstmals staunend den Himmel, Gras und Wolken.

Fritzl wird zu lebenslanger Haft verurteilt. In seiner Zelle gleitet er aktuell mehr und mehr in die Demenz ab. Anfangs glaubt er noch immer, nur aus Liebe gehandelt zu haben, bettelt Elisabeth um ihre Vergebung und Geld an. Will seine Frau vergeblich von der Scheidung abhalten.

Die verbringt, nachdem die Taten aufgedeckt sind, einige Tage schockiert in dem Verlies und gibt bis heute an, nichts gewusst zu haben. Sie darf nichts von Fritzls vorhandenem Vermögen behalten, alles wird eingezogen. Heute lebt sie mittellos in Österreich.
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Elisabeth und ihre drei Kinder müssen erst Mühsam den Kontakt zur Außenwelt lernen, vor allem auch zu den drei anderen Kindern, die bei Fritzl oben im Haus aufgewachsen sind. Sie alle leben heute unter falschem Namen in einem gestifteten Haus, beziehen eine staatliche Pension und versuchen, ihr Leben so normal wie möglich weiter zu leben. 

Österreich - zwei Jahre zuvor 


Bereits 2006 erregt Österreich Aufmerksamkeit durch den Fall von Natascha Kampusch.

Zwar fußt der Roman größtenteils auf dem Fall Fritzl, doch ist der Alltag im Verlies, sowie die Transparenz, mit der das Opfer im Nachhinein über die Tat und ihren Entführer spricht, mit Kampuschs Fall vergleichbar.
Denn, auffällig bei Kampusch: Anders als die meisten anderen Opfer von Langzeitentführungen geht sie offen und halbwegs reflektiert mit der Sache um. Sie gibt an, um ihren Entführer zu trauern, spricht offen über ihre Gefangenschaft, kauft später das Haus, in dem sie festgehalten wurde, um es für „verrückte Fans“ zu bewahren.

Kampusch wird von Wolfgang Přiklopil entführt, als sie zehn ist, und acht Jahre im Keller gefangengehalten, bevor ihr 2006 die Flucht gelingt.

Die Anlage ihres Gefängnisses ist dem im RAUM nicht unähnlich und dank Kampbusch gut dokumentiert: Der kleine, allerdings fensterlose Raum, ist gut einen Meter achtzig breit und zwischen zwei Meter achtzig und zwei Meter fünfzig tief. Insgesamt nicht einmal fünf Quadratmeter. Es gibt ein Hochbett, so dass der Raum darunter genutzt werden kann. Ein Schreibtisch und ein Fernseher stehen in dem Raum, ein WC und eine Edelstahlspüle. Dazu kommen Regale mit Büchern.
Der Tagesablauf wird geregelt durch eine Zeitschaltuhr, die das Licht ein und ausschaltet, was Kampusch ein vages Zeitgefühl ermöglicht. Die Geräusche durch den Ventilator rauben ihr schier den Verstand, der Raum ist schimmelig, feucht und voller Insekten.
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Erst nach Jahren ist es Natascha Kampusch erlaubt, die Wohnung ihres Peinigers zu besuchen. Der zwangsgestörte Sauberkeitsfanatiker (er verbietet ihr das Weinen aus Furcht, das Salz könne seine Fliesen verätzen), bestraft sie mit Schlägen und Misshandlungen, wenn sie die Wohnung verschmutzt.
Wiederum einige Jahre später darf Kampusch nachts in den Garten und sich Zweige als Andenken mitnehmen.
Sie ist stark und lässt sich nicht brechen, erzählt sie, fordert später Bildung und Bücher ein, beides wird gewährt.

Ihr Verhältnis zu Přiklopil wird sie später als „gleichrangig“ bezeichnen.
In ihrem Buch schreibt sie hierzu, sie sei „nicht in den ewigen Misshandlungen, in dem Kummer und der Hilflosigkeit [ertrunken], sondern sie schafft es aus eigener Kraft, Distanz zu wahren, in die innere Immigration zu gehen, ohne sich zu verlieren.“

Anders als im Fritzl-Fall scheint sich hier eine gleichgestellte Beziehung zwischen Opfer und Entführer ergeben zu haben, wie auch in RAUM. Erwartungen und Forderungen sind transparent und werden von beiden Teilen in einer verqueren Form von Miteinander ausgeführt.

Der Fall Kampusch gerät zum medialen Großereignis und nährt bis heute allerlei Gerüchte: hatten sich Kampusch und ihr Entführer verliebt, wie die Mutter des Entführers behauptet? Gab es mehrere Täter, und war Kampusch das Opfer eines Kinderpornorings?
Jahrelang streitet Kampusch ab, vergewaltigt worden zu sein. Als 2013 der Film 3096 TAGE in die Kinos kommt, der ihre Geschichte erzählt, gibt es dort aber Vergewaltigungsszenen, was für Verunsicherung sorgt. Zumindest soll Kampusch die Szenen abgesegnet haben, und in einem Interview gibt sie später zu, dass es stimme. Offensichtlich sind Polizeiakten an die Öffentlichkeit geraten, so dass sie am Ende auch dieses Detail offenlegen musste.

Mediale Stellungnahme 


In Interviews fällt schnell die Intelligenz und Sprachgewandtheit von Natascha Kampusch auf, die zeigen, dass sie sich selbst etwas beibringen durfte und davon Gebrauch gemacht hat.

Natascha Kampusch gibt ihr erstes ausführliches Interview bereits zwei Wochen nach der Flucht, was auf große Verwunderung stößt, aber natürlich auch auf ein noch nie dagewesenes mediales Interesse: In Österreich erreicht das ausgestrahlte Interview einen Marktanteil von 80%!
Kampusch erzählt beinahe entrückt, aber sehr sortiert und reflektiert von ihrer Zeit im Verlies und ihrem Verhältnis zu Přiklopil, der sich noch am Tag ihrer Flucht das Leben genommen hat.
Diese Interviews erinnern stark an eine ähnliche Szene in RAUM.
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Weshalb und warum Kampusch so früh in die Öffentlichkeit tritt, zunächst mit einem offenen Brief, dann mit mehreren Live-Interviews, mit ihrem Roman „3096 Tage“ und der Mitarbeit am gleichnamigen Film, ist unklar. Fest steht, dass horrende Summen für die Interviews und deren Verkauf geflossen sind. So zahlt RTL eine hohe sechsstellige Summe für die Rechte an der deutschen Übertragung des ersten Interviews.
Man vermutet neben den finanziellen Gründen (die auch in RAUM eine Rolle spielen), dass es etwas mit dem Versuch zu tun hat, die Kontrolle zurückzugewinnen, und natürlich auch, Einfluss auf die Boulevardmedien zu nehmen. Dass diese ohnehin keine Grenzen kennen zeigt der Fall eines Boulevardblatts, das die neuen Namen und Adresse von Elisabeth Fritzl und ihren Kindern veröffentlicht.

Heute hat Natascha Kampusch den Kontakt zu ihren Eltern weitestgehend abgebrochen.
2011 eröffnet sie ein aus den erhaltenen Geldern diverser Medien finanziertes Krankenhaus mit 25 Betten in Sri Lanka und widmet sich karitativen Unternehmungen. 

Was bleibt 


Langzeitentführungsopfer wie Natascha Kampusch und Elisabeth Fritzl gibt es immer wieder – immer wieder auch mit Kindern. Und immer wieder hinterlassen sie Gefühle der Hilflosigkeit und der Ungläubigkeit. Dennoch sind beide Fälle aus Österreich besonders – der Fall Fritzl durch die Gandenlosigkeit der Tat und der Gefangenschaft, die auch die Kinder betraf, der Fall Kampusch durch die extreme Offenheit, mit der das Opfer auf die Öffentlichkeit zugeht.

Selten zuvor ist mir die Bearbeitung eines Themas so nahe gegangen und hat einen solchen Hass auf die Täter entfacht. Auf die rohe Entmenschlichung der Opfer, die für solche Taten über solche Zeiträume hinweg notwendig ist.

Dem Film RAUM gelingt es nun, aus dieser Grausamkeit, dieser Unmenschlichkeit, eben keine Schilderung des Bösen zu machen, sondern – und das macht ihn so sehenswert – einen Film über Hoffnung und Liebe und den Sieg dieser Gefühle!
Das macht den faden Beigeschmack, den die Geschichte des Films hinterlässt, nicht besser, aber es macht das Grauen erträglich. Irgendwo.
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