06.05.16

Wer die Nachtigall stört (USA 1962) – Dreieinhalb Stufen von Moral und Humanismus

WER DIE NACHTIGALL STÖRT gilt als einer der wichtigsten Filme aller Zeiten – einfühlsam, sensibel, berührend. Ein Film, der von Integrität erzählt. Von Freundschaft, Menschlichkeit, und von Gerechtigkeit. Für seinen Star Gregory Peck wird der Kleinstadtanwalt Atticus Finch, der den Staffelstab des Humanismus an seine Kinder weiterreicht, zur Rolle seines Lebens.
Doch wo so viel Nächstenliebe ist, da ist der Hass nicht weit ...
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Biancas Blick

1960 fegt ein Sturm durch die USA. Die Amerikanerin Harper Lee legt mit ihrem Erstlingswerk „Wer die Nachtigall stört“ einen Roman vor, der mit 40 Millionen verkauften Exemplaren und der Übersetzung in 40 Sprachen nicht nur zu einem der wichtigsten Romane der Welt avanciert und den Pulitzer-Preis gewinnt, sondern auch einen Schrei der Entrüstung in weiten Teilen der USA auslöst.
Die konservativen Kreise stören sich an der kritischen Sichtweise zur Rassentrennung, die aufkommende Bürgerrechtsbewegung hingegen an der unverblümten, häufig politisch unkorrekten Sprache, die Schwarze immer noch als Nigger bezeichnet.
Bis in die 90er wird Lees Roman deshalb immer wieder aus vielen, vor allem konservativen, Schulen Amerikas verbannt!

Zwei Jahre später, 1962, hat sich Amerikas Konservative gerade wieder etwas beruhigt, als der Regisseur Robert Mulligan sich anschickt, den brisantesten Roman seiner Zeit zu verfilmen, und zwar mit keinem Geringeren als Gregory Peck in der Rolle des Atticus Finch.
Zu diesem Zeitpunkt kann niemand ahnen, dass der Film – vom American Film Institute – zu einem der 25 Besten Filme aller Zeiten gewählt werden würde, oder dass die Figur des Atticus Finch bis heute als Synonym für Humanität, Ethik und Menschlichkeit Bestand haben würde. Dass es Gregory Pecks bedeutendste Rolle werden würde.
Nein, 1962 ahnt noch niemand, welchen Weg der Film einmal gehen wird ...

Eine Kindheit anno 1930


Der Film erzählt, wie das Buch, eine Familiengeschichte. Die sechsjährige Scout wächst gemeinsam mit ihrem drei Jahre älteren Bruder Jem in den frühen 30er Jahren auf – der Zeit der großen Depression. Sie lebt mit ihrem Vater, dem Anwalt Atticus Finch, im Süden der USA, wo Atticus die Kinder allein großzieht, da die Mutter bereits früh verstarb.
Atticus ist nicht nur Vater, sondern auch Freund, Lehrer und Hüter der Kinder und nimmt eine besondere Stellung in ihrer Welt ein. Als er jedoch die Pflichtverteidigung des schwarzen Tom Robinson übernimmt, hält der Rassismus Einzug in diese idyllische, friedliche Kindheit und setzt Scouts Unbeschwertheit ein Ende.
Der unbeschwerten Kindheit wird bald die Realität des Hasses entgegengesetzt - und sie wird an keinem der Kinder spurlos vorübergehen.
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Das Sensationelle an Buch und Film ist die Perspektive, aus der die Geschichte um Rassenhass und Diskriminierung erzählt wird, denn wir erleben diese Welt aus der Sicht der kleinen Scout.
Heutzutage ist die Erzählung aus der Sicht eines Kindes ein regelmäßig wiederkehrendes Stilmittel, zuletzt im herausragenden Drama RAUM. 1962 jedoch ist dieser Trick vollkommen neu!

Trotz der Ernsthaftigkeit der zugrundeliegenden Geschichte bleibt der Film dadurch leicht und „gut verdaulich“, ja, er wirkt beinahe unschuldig.
Durch Scout und Jem, durch ihre Sicht der Dinge und die Fragen, die sie während der politischen Situation und des Prozesses aufwerfen, werden wir Zuschauer auf besondere Art und Weise in die Geschichte gesogen. Immer wieder ertappt man sich selbst dabei, viele Selbstverständlichkeiten, Ereignisse und Handlungen zu hinterfragen, und den Status Quo anzuzweifeln.

Wenn uns europäischen Zuschauer das schon so innovativ vorkommt, wie revolutionär muss es dann erst dem amerikanischen Publikum der frühen 60er Jahre erscheinen? In einer Zeit, in der der Rassismus noch offen und mit einem Gefühl der Gerechtigkeit praktiziert wird?
Scouts Fragen beziehen sich auf humanistische, menschliche und soziale Zusammenhänge und bestechen gerade durch die Einfachheit und Unschuld, in der sie gestellt werden.
Jem, ihr älterer Bruder ist in seiner moralischen Entwicklung schon wesentlich weiter und setzt somit einen fein ausbalancierten Gegenpart zur oft noch etwas naiven Scout.
Er steht sozusagen eine Stufe höher in der ethisch-moralischen Entwicklung und hat bereits stärker von der Erziehung des Vaters profitiert.
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Dem Film gelingt es, dass man als Zuschauer das Amerika seiner Zeit hinterfragen muss, zum einen, weil er eben dieses Amerika immer wieder durch seine eigene Metaebene anzweifelt, aber auch, weil wir den Reifungsprozess eines sechsjährigen Kindes mitverfolgen, das sich aufgrund der Gerichtsverhandlung auf die nächste Stufe seiner moralischen Entwicklung erhebt. WER DIE NACHTIGALL STÖRT ist damit ein lupenreines Coming-Of-Age-Drama.

Eine frühe Coming-Of-Age-Perle


Heutzutage ist der Genrebegriff der “Coming-Of-Age“-Geschichte aus der Filmwelt nicht mehr wegzudenken.
Unter dem Begriff „Coming-Of-Age“ versteht man Geschichten und Filme, in denen Kinder oder Jugendliche von grundlegend menschlichen Fragen bewegt werden. Zumeist verändert sich das Wesen des Jugendlichen aufgrund solch ernster und prägender Themen und Ereignisse, so dass es zu einem „Reifungsprozess“ kommt. Das Kind oder der Jugendliche verliert ein Stückweit seine Naivität und geht geläutert oder verändert aus den Ereignissen hervor. Damit ist die „Coming-Of-Age“-Geschichte eine Nebensparte des von Goethe „erfundenen“ Bildungsromans.
1962 ist dieser Begriff noch im Bestehen – vor allem mit J.D.Salingers „Fänger im Roggen“ wurde die Gattung in den USA populär. Filmisch ist das Genre im Studiosystem Hollywoods aber noch wenig vertreten und begrifflich kaum genutzt. (Eine genauere Abhandlung über den Coming-Of-Age-Film und seine Entwicklung findet ihr in unserem Blick auf den Film BOYHOOD.)

Wir sind einfach so frei und setzen WER DIE NACHTIGALL STÖRT als einen der ersten Vertreter dieses Genres mit auf die Liste. Die neuartige Erzählperspektive und das noch unverbrauchte Genre unterstreichen jedenfalls die Einzigartigkeit des Films zu seiner Entstehungszeit.

Zum Sinnbild für Scouts Entwicklung in jenem Jahr der 30er Jahre wird die titelgebende Nachtigall (die, wie wir wissen, im Originaltitel eigentlich eine Spottdrossel ist). Die bisher in Geborgenheit und Unschuld aufgewachsene Scout lernt in jenem Jahr, in dem die Geschichte spielt, viel über Ethik, Menschlichkeit, Ungerechtigkeit und Rassismus, über die Menschen, ihre Ängste und Standpunkte, über Vorurteile und Diskriminierung – und das so unvermittelt, dass es sie verändert und sie etwas lehrt.
Ein Jahr nach Beginn der Handlung wird sie anders mit Vorurteilen und Ängsten umgehen, denn auch sie selbst erfährt am eigenen Leib, dass Menschen nicht immer so sind, wie sie von anderen dargestellt werden. Und dass Humanität und Menschlichkeit auch im Kleinen zu finden und zu geben sind.
Ich werde dir jetzt einen schönen Trick sagen. Damit kommst du mit allen möglichen Leuten viel besser aus. Du verstehst einen Menschen erst richtig, wenn du die Dinge auch mal von seinem Standpunkt aus betrachtest ... wenn du mal in seine Haut kriechst, und darin herumspazierst. Atticus erklärt seiner Tochter das menschliche Miteinander.
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Diese Erfahrung wird für sie zur Erkenntnis, als es ihr gelingt, es mit dem Verbot ihres Vaters gleichzusetzen, der seinen Kindern stets auftrug, keine Nachtigallen zu töten (oder zu stören …), da diese keine Gefahr darstellen und den Menschen nur mit ihrem Gesang erfreuen wollten. Sie nutzt dieses Gleichnis auf äußerst erfahrene Art und Weise, um sich schützend vor einen anderen Menschen zu stellen, und tritt damit in die nächste Stufe ihrer Entwicklung ein.
Sie ist gereift und hat sich von einem oft egozentrischen Kind zu einem Menschen gewandelt, der Verantwortung für einen anderen Menschen übernimmt, der es für sich selbst nicht mehr zu tun vermag.
Das macht WER DIE NACHTIGALL STÖRT zu einem läuternden Film über das Erwachsenwerden.

Dreieinhalb Stufen der Moralentwicklung


Interessanterweise lässt sich WER DIE NACHTIGALL STÖRT auch als Paradebeispiel für eine bis heute weit verbreitete Theorie der Moralentwicklung verstehen.
1958 entwickelt der amerikanische Erziehungswissenschaftler Lawrence Kohlberg in seiner Dissertation das „Stufenmodell der Moralentwicklung“, mit dem er die moralische Intention der menschlichen Handlungen zu ergründen versucht. Kohlberg, der sein Modell auf den Theorien von Jean Piaget aufbaut, geht davon aus, dass die Moralentwicklung des Menschen aus sechs Stufen besteht, deren letzten Stufen jedoch nicht immer erreicht werden. Die Entwicklung dieser Stufen verläuft Kohlberg zufolge stets in derselben Reihenfolge.
In der ersten Stufe handeln Kinder gänzlich ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend und kontrollieren ihr Handeln allein danach, ob sie fürchten, von einer Autorität bestraft zu werden.
Die zweite Stufe erkennt die Bedürfnisse anderer Personen an, und man richtet sein Handeln daran aus. Wie auf einem Marktplatz wird das eigene Handeln jedoch am konkreten Handeln des anderen ausgerichtet: Gute Taten werden mit guten belohnt, schlechte Taten hingegen mit schlechten vergolten – ebenso handelt man oft gut, um etwas Gutes im Gegenzug zu erwarten.

Die dritte Stufe, oft im Jugendalter, nimmt die Erwartungen anderer Menschen als für sich selbst existierend wahr und möchte diese erfüllen, wenn auch häufig noch, um eigene Schuldgefühle zu vermeiden. Auf der vierten Stufe erweitert der Mensch diese Sicht soweit, dass er derlei Regeln und Gesetze für ein Funktionieren der Gesellschaft als notwendig erachtet.
Die Stufen fünf und sechs sind typischerweise Erwachsenen vorbehalten. In der fünften Stufe erkennt man Moral als „Gesellschaftsvertrag“ an, hinterfragt jedoch die Motivationen und Nützlichkeiten einzelner Menschen und der untereinander geschlossenen Moralnormen. Die sechste Stufe, die Kohlberg zufolge nur von 5% der Bevölkerung erreicht wird, legt die konkrete Moralbegründung ab. Das eigene Handeln wird an abstrakten Universalprinzipien wie Kants „Kategorischem Imperativ“ orientiert, Konflikte sollen argumentativ und unter Einbeziehung aller Beteiligten gelöst werden.
Kohlberg arbeitete bis zu seinem Tod 30 Jahre lang immer weiter an seiner Theorie.

Anhand der Figuren in WER DIE NACHTIGALL STÖRT lässt sich dieses Modell hervorragend darstellen.
Der Vater Atticus Finch etwa hat seine Entwicklung bereits abgeschlossen.
Er hat – wenn man Kohlbergs ausgearbeitete Theorie zugrunde legt – die sechste und letzte Stufe der Moralentwicklung erreicht, und handelt unter Einbeziehung der Sichtweisen aller Beteiligten. Die Lösung von Konflikten werden rein argumentativ gesucht.
(Als kleine Randnotiz: Filmfiguren, die derartig stark die sechste Stufe der Moralentwicklung vertreten, sind extrem selten. Das vielleicht einzige weitere Beispiel wäre der Geschworene Nummer 8 in DIE ZWÖLF GESCHWORENEN. Diese Figur führt die sechste Stufe argumentativ so gekonnt aus, dass der Film bis heute in Lehrseminaren zur moralischen Entwicklung und ihrer Bedeutung gezeigt wird und als Orientierung dient.)
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Jem, Scouts älterer Bruder, befindet sich am Übergang zur 3. Stufe, ist also für sein Alter schon sehr reif.
Er erkennt die moralischen Werte der Gesellschaft und die Anforderungen, die seine engsten Bezugspersonen an ihn stellen und will diese erfüllen. Dass Jem den Wunsch äußert, seinen Vater zu brisanten Terminen zu begleiten, ihn trotz Verbots sogar dort aufsucht (bei der Familie Robinson etwa, oder während der Wache vor dem Gefängnis, sowie heimlich während des Prozesses), zeigt, dass er das übergeordnete moralische Prinzip der Handlungen seines Vaters verstehen will.
Er erkennt die Rolle seines Vaters und die Bedeutung des Prozessausgangs für den Erhalt der Gerechtigkeit, was Scout noch nicht vermag, sowie die Gefahr, in der sein Vater schwebt, weil er sich auf die Seite eines Schwarzen stellt.
Er ist eindeutig der Sohn seines Vaters und wird einmal ebenso moralisch und ethisch handeln wie er.
Scout ist zu Beginn des Films noch der ersten Stufe zuzuordnen.
Sie versucht, die ihr auferlegten Regeln zu befolgen, ist allerdings noch sehr von ihren eigenen Bedürfnissen getrieben. Sie kann das Erleben anderer oft nicht einordnen oder akzeptieren (so zum Beispiel die Scham, die ein stolzer Farmer verspürt, als er Atticus nicht mit Geld bezahlen kann, und deshalb zu Naturalien greifen muss. Oder auch das Verhalten anderer Kinder, die weniger zu essen haben als sie selbst und das, was sie angeboten bekommen, im Übermaß und oft seltsamen Kombinationen in sich reinstopfen, wie zum Beispiel als Fleisch mit Sirup).
Scouts Charakter ist nun deshalb so spannend und zentral wichtig für WER DIE NACHTIGALL STÖRT, weil sie sich während der Handlung moralisch weiterentwickelt. Sie erreicht am Ende der Geschichte die zweite Stufe, denn sie erkennt das Prinzip menschlicher Beziehungen als Austausch gegenseitig zugebrachter Handlungen.

Und genau dieser Aufstieg auf die zweite Stufe wird in einer der wunderbarsten und eindringlichsten Szenen am Ende des Films sichtbar gemacht: Atticus hebt seine Tochter auf einen Stuhl (auf die nächste Stufe), um ihr zu erklären, weshalb sie den geistig zurückgebliebenen Nachbarn „Boo“ Radley nicht der Polizei ausliefern sollten, der Scout und Jem gerade das Leben gerettet hat.
Doch Scout kommt ihm zuvor – und erklärt, dass sie es verstanden hätte. Sie stellt jenes berühmte Gleichnis zur Nachtigall an. Sie erkennt also an, dass man eine gute Tat mit einer eigenen guten Tat belohnen sollte – den fröhlichen Gesang der Nachtigall, indem man ihr nichts tut, und die Hilfe ihres Nachbarn „Boo“, indem man ihn nicht der Polizei ausliefert. Darüber hinaus erkennt sie, dass von beiden keine Gefahr ausgeht, und beide den Menschen nur "Gutes" tun wollen.
Die Rolle des Boo Redley ist das Kinodebüt des damals 29-jährigen Robert Duvall, der zuvor nur Gastauftritte in Fernsehserien hatte. Bis zu seinem endgültigen Durchbruch in M*A*S*H* und DER PATE wird es noch weitere knapp zehn Jahre dauern.
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Scout gelingt also die Perspektivübernahme eines anderen Wesens; eine notwendige Voraussetzung, um sich moralisch zu entwickeln.
Damit zeigt sie, dass sie nun auch einen weiteren Satz verstanden hat, den Atticus ihr an anderer Stelle mit auf den Weg gibt, und der originalgetreu übersetzt bedeutet: „Urteile nicht über einen Menschen, ehe du nicht ein Stück in seinen Schuhen gelaufen bist“.
(Der ursprüngliche Spruch dazu stammt wohl von einem unbekannten Apache-Indianer und lautet „Großer Geist, bewahre mich davor, über einen Menschen zu urteilen, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gegangen bin“.)

Mit dieser berührenden moralischen Entwicklung der kleinen Scout endet WER DIE NACHTIGALL STÖRT. Eine wunderbar geschriebene und inszenierte Reifung!

Ein neuer Heldentyp


Doch den Fragen der kleinen Scout und dem Erleben ihres Bruders Jem, dieser subtilen Kritik am Amerika der 30er – und sicherlich auch der 60er Jahre, muss etwas entgegengestellt werden.
Diese Aufgabe übernimmt Atticus Finch, eine der bedeutendsten Figuren der Filmgeschichte. Atticus ist durch und durch Humanist, Menschenfreund und Rechtsvertreter (oder sagen wir lieber: Gerechtigkeitsvertreter).
Er ist der stille Held des Films, und im Hollywood jener Zeit ein Heros mit ziemlich neuen Attributen des Heldentums.

Der Held muss – wie stets – jemanden retten, doch tut er das nicht mit Revolver, Schwert oder Faust, sondern mit Humanität, Ethik und – Argumenten.
Er tritt nicht gegen einen Schurken an, sondern gegen ein Menschenbild, gegen Vorurteile und Vorverurteilung. Das tut er mit ruhigen Worten, Geduld und Vehemenz.

Der Held ist auch nicht „cool“ oder „unumstößlich“, nein er ist tollpatschig und einfach menschlich.
Unvergesslich ist hier die Szene, in der Atticus Finch einen tollwütigen Hund erschießen muss. Der Held kommt, nimmt das Gewehr, legt es an, will schießen, doch da rutscht ihm die auf die Stirn geschobene Brille auf die Nase. Erneut schiebt er sie zurück und wieder rutscht sie hinab. Ruhig nimmt Finch die Brille ab und lässt sie auf den staubigen Boden fallen. Dann erst legt er an und erschießt den Hund.
Ja, er schützt seine Kinder vor dem Hund, ja, er ist ein Held, und dennoch ist er der ungewöhnlichste Held, der bis dato die Filmbühne betreten hat. Er ist ein menschlicher Held, dem ganz alltägliche Missgeschicke passieren, die wir nie mit einem gängigen Kinohelden in Verbindung gebracht hätten. (Einem Charlton Heston jener Zeit wäre die Brille wohl nicht vom Kopf gerutscht ...)
Uncooler Held - und doch Bewahrer der Menschlichkeit. Atticus Finch ist eine gänzlich untypische Heldenfigur, nicht nur für seine Zeit.
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„Genial!“ möchte man beim Schauen dieser Szene immer wieder rufen, denn das ist eine der wunderbarsten Momente über „lebensechte“ Filmhelden, die man je zu Gesicht bekommt.

Eine weitere Szene ist hier ebenfalls zu nennen: Atticus Finch muss das Gefängnis vor dem Mob der Kleinstadt verteidigen, der den Angeklagten, Tom Robinson, lynchen will. Zu Hause bereitet er sich vor. Er geht in den Schrank, wühlt ein wenig herum – und nimmt sich schließlich heraus, was er für die Nacht als Wachposten brauchen wird, um seinen Mandanten vor den wütenden Männern schützen zu können. Nein, kein Gewehr, keine Pistole, wie sonstige Helden es getan hätten. Eine Stehlampe und ein Buch sind Atticus' Begleiter für die Nacht.

Für Atticus sind Argumente das Mittel menschlicher Auseinandersetzung, und in seinen Augen sind sie alles, was er braucht, um Robinson in seiner Zelle zu beschützen. Als die Meute kommt, ist Atticus bereit – im Licht einer Stehlampe, deren Kabel in die Zelle führt, um sie mit Strom zu versorgen. Ja, Atticus ist ein Held. Aber ein anderer, als man es gemeinhin erwartet hätte.

Gregory Peck und die Filmhelden


Als bekannt wird, dass Gregory Peck die Rolle des Atticus Finch spielen wird, geht ein Raunen durch die Filmwelt. Peck spielt Finch? Den stillen, eher unspektakulären Anwalt, der sich auf die Seite eines Schwarzen stellt, der eine Weiße vergewaltigt haben soll?
Das scheint so gar nicht Pecks Rollenspektrum zu entsprechen, hat er doch bisher meist sehr viel klarer zu Tage tretende Heldenfiguren gespielt.
Harper Lee ist sofort begeistert; sie verehrt Peck und unterstützt die Wahl des Studios.
Für Peck wird es die bedeutendste Rolle seiner Karriere.
Später wird er darüber sagen: Ich packte alles was ich hatte in diese Rolle - all meine Gefühle und alles, was ich in den bisherigen 46 Jahren meines Lebens über das Familienleben, Väter und Kinder gelernt hatte. Und natürlich meine Gefühle von Gerechtigkeit, Ungleichheit und Chancengleichheit den Schwarzen gegenüber.

Bis an die Zähne "bewaffnet". Atticus Finch erwartet den Lynchmob, überzeugt davon, das Leben seines Mandanten mit Argumenten gegen Mistgabeln und Schrotflinten schützen zu können. Eine großartige Vekehrung eines alten Western-Motivs.
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Peck selbst ist überzeugtes Mitglied der Bürgerrechtsbewegung und unterstützt Martin Luther King im Kampf um die Rechte für Schwarze.
Er spielt den Atticus Finch mit solcher Subtilität, das man sich immer wieder fragt, ob Peck gerade schauspielert oder nicht. Es ist eine der bewegendsten Darstellungen seiner Karriere; man kann sich an seiner Figur, den kleinen Manierismen und Unbeholfenheiten, kaum sattsehen.

Schon zwischen 1946 und 1950 erhält Peck vier Oscar-Nominierungen als Bester Hauptdarsteller, geht jedoch immer wieder leer aus.
1963, bei der fünften Nominierung endlich, erhält er die Trophäe für seine Darstellung des Atticus Finch unter dem frenetischen Beifall seiner Kollegen.
Als er 1989 den Lifetime Achievement Award des American Film Institutes erhält, ist der Verleihung eine Podiumsdiskussion vorangestellt. Beteiligte des Films WER DIE NACHTIGALL STÖRT, wie etwa Mary Badham (Scout) und Harper Lee kommen zu Wort, ebenso wie Fans des Films.
Wieder wird deutlich, wie bedeutsam der Film bis in die Moderne ist, wie sehr er die Menschen beeinflusst hat und wie oft die Menschen Atticus Finch als moralisches Vorbild nutzen, als Leitfaden für die Erziehung ihrer eigenen Kinder.

Ein Aufschrei der Fans


WER DIE NACHTIGALL STÖRT ist sowohl als Roman, wie auch als Film bis heute ein Klassiker.

Im Juli 2015 allerdings empört Harper Lee die literarische und cineastische Fangemeinde ihres Werks: Ihr zweiter Roman, „Gehe hin, stelle einen Wächter“ erscheint in den USA und sorgt, erneut, für mächtig Wirbel.
Der Roman ist eine Fortsetzung zu „Wer die Nachtigall stört“ und greift die Familie Finch zwanzig Jahre nach dem Prozess um Tom Robinson auf. Wir treffen auf die mittlerweile 26-jährige Scout, die nun einen Partner hat und entdecken muss, dass dieser regelmäßig die Treffen des Ku-Klux-Klans besucht. Ebenfalls anwesend auf diesen Treffen: ihr Vater Atticus!
Beide Männer in ihrem Leben erweisen sich als glühende Verfechter der Rassentrennung.

Leser und Kritiker sind zutiefst verunsichert. Die moralische Leitfigur des Jahrhunderts, Atticus Finch, wird vor ihren Augen völlig demontiert. Kaum jemand schafft es, dem Folgeroman ein eigenständiges, unabhängiges Leben zuzubilligen – zu sehr spukt Atticus' humanistischer Geist in ihren Köpfen umher.

Das Erstaunliche dabei: Harper Lee hat „Gehe hin, stelle einen Wächter“ noch vor „Wer die Nachtigall stört“ geschrieben. Im Jahre 1957 will jedoch kein Verlag einen Roman veröffentlichen, der die Rassentrennung so sehr propagiert, denn die Rassenunruhen, die Rosa Parks ausgelöst hat, werden immer heftiger. Man empfiehlt Harper Lee, ihre Geschichte in die 30er Jahre zu verlegen. So beschließt Lee, die Vorgeschichte zu erzählen: „Wer die Nachtigall stört“.
Atticus Finch gilt vielen Fans als der Inbegriff von Humanismus. Als er in der Fortsetzung zum überzeugten Rassentrenner wird, ist das Entsetzen groß.
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„Wer die Nachtigall stört“ gilt bis heute als das meistgelesenste Buch Amerikas nach der Bibel. Wohl auch, weil es zur Schullektüre gehört, und jeder Amerikaner damit aufwächst.
Für Lee wird es der einzige Erfolg bleiben. Sie veröffentlicht, abgesehen von „Gehe hin, stelle einen Wächter“ nie wieder irgendein Buch. Zeitlebens muss sie sich mit Gerüchten auseinandersetzen, der Roman sei autobiographisch. Dazu gehört auch, dass Harper Lee als Kind im selben Dorf aufwächst wie Truman Capote und mit diesem befreundet war. (Harper Lee und der Erfolg von WER DIE NACHTIGALL STÖRT wird auch im Film CAPOTE angesprochen.) Man munkelt, dass der „nervige“ Nachbarjunge der Finchs, der sie während der Sommerferien besucht, Capote sein soll. Böse Zungen behaupten daher und weil Lee nie wieder etwas schreibt , dass der Roman in Wirklichkeit von Capote selbst stamme. Erst 2006 wird ein Brief gefunden, der dieses Gerücht endgültig beseitigt, da Capote noch vor Erscheinen des Romans einem Freund gegenüber vom Talent seiner guten Freundin schwärmt.

Wer die Nachtigall stört ...


Im Endeffekt ist es jedoch unerheblich, welchen Weg die Figuren der Geschichte genommen haben. Ob man „Gehe hin, stelle einen Wächter“ in den „Kanon“ einbezieht, der Atticus Finch umgibt, oder den Ku-Klux-Finch in ein Paralleluniversum verrückt.
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WER DIE NACHTIGALL STÖRT ist als eigenständiges Werk zu betrachten – und als solches von unschätzbarem Wert. Es stellt einen der Leitfäden dar, nach denen unsere Gesellschaft vermutlich nicht funktioniert, aber funktionieren sollte. All den Zynikern, die heute behaupten, Orwells „1984“ sei eine Warnung gewesen, keine Anleitung, denen möchte man zurufen: „Aber WER DIE NACHTIGALL STÖRT! Da habt ihr eure Anleitung.“ Es ist eines jener Werke von solch moralischer Reinheit, die ihre Werte ganz einfach vermitteln – ohne Zeigefinger, ohne Druck – und eben auch ohne Zynismus.
Es ist einer jener Filme, der seinem eigenen Titel gerecht wird. Ein Film, der einfach nur singen will. Schön sein will. Wir alle sollten uns die Zeit nehmen, und ihm zuhören.

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